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Im Frauenladen Panke
Lesung März 2023
"Der Sommer 77"
 

Der Sommer 77 ist in meiner Erinnerung umrahmt von zwei Toten. Und dazwischen bin ich ein wenig gestorben oder meine kleine Kindheit.

Die Sommerferien und Urlaube meiner Eltern und mir waren immer sehr überschaubar gewesen. Zunächst der gnadenlose Bildungstrip, den sie mir mit Unmengen von Eis und teuren Hotelpools versüssten. Ich glaube, ich kann zwischen Ravenna und Brindisi jedes Mosaik und jedes Altarbild von Perugino einordnen und eine Geschichte dazu erzählen.

In Rom wurde ich meist bei einer italienischen Familie untergebracht. Sie waren den ganzen Sommer am Strand, während meine Eltern besichtigten. Mein quasi noch Sandkastenfreund hält schüchtern den Arm um mich auf dem Photo. Ich bin flachbusig wie ein Brett, aber schon ziemlich blond. Wir hörten Pazza Idea, di far amore con lui, verrückte Idee, ihn zu zu lieben, aus der Musikbox im Stabilimento, der Badeanstalt und aßen Fritto Misto, frittierte Meeresfrüchte mit seinen Eltern. Bruno sprach gut deutsch und schützte mich vor den vermeintlich frechen Jungs, ich war aber meist sowieso im Wasser. Das Mädchen mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern hieß es.

Wenn meine Mutter nicht wußte wohin mit mir im Rest des Sommers, wurde ich auf einen Reiterhof am Ammersee verfrachtet. Hier war es deutlich heißer in meiner Erinnerung. Die Bewegung im Sattel erregte mich genauso wie die Wasserdüse im Pool. Am Lagerfeuer wurde ich ins Flaschendrehen eingeführt. Aus irgendeinem Grund küsste mich Bert länger als es sein musste und die Truppe gröhlte. Der Kassettenrecorder untermalte mein Unbehagen mit Love’s in need of Love today. Vom blinden Stevie Wonder, der tiefer blickte. Ich hab mich oft in der Stallbox bei einer scheuen Schimmelstute versteckt. Irgendwann rief ich zuhause an und heulte. Meine Mutter kam wortlos mit einem Kuscheltier im Auto und holte mich ab. Mein Vater arbeitete. Irgendwo mussten Kinder zur Welt gebracht werden.

Der Sommer mit den Toten 77 begann sehr fröhlich, weil wir mit meiner Cousine und ihren Eltern nach Positano fuhren. Ich liebte sie abgöttisch, sie war drei Jahre älter und wunderschön: mit dunkelbraunen Locken, stahlblauen Augen und aus heutiger Sicht so sinnlichem Mund, den man kaum beschreiben kann. Sie hatte schon einen holländischen Freund in Kiel, rauchte mehr oder minder offen und verkündete stolz, sie hätte eine Spirale im Leib, die wolle sie nutzen. Unsere Eltern waren immer abwesend auf Besichtigungstour. In Paestum, auf Capri, in Herculaneum, was eben erreichbar war über die vielen Treppen nach oben. Wir saßen unten am Kieselstrand, am Bootshaus, bzw. der kleinen Bar davor. Die Kieselsteine kullerten und glucksten von den sanften Wellen. Manchmal war auch sehr hoher Wellengang, aber nie bedrohlich, eher mitreissend.

Eva war schnell mit zwei Fischerjungs zugange, aber es gab auch schöne Stunden mit ihr allein, wo wir Musik hörten und uns die Fußnägel lackierten und sie von ihrem chaotischen, aber scheinbar freien Großwerden erzählte. Die Eltern waren dabei, sich scheiden zu lassen. Sie war dabei, von der Schule zu fliegen. Wir rauchten MS und probierten Cappuccino.

Also, der erste Tote jenes Sommers begegnete mir, als ich lässig im Liegestuhl im Spiegel blätterte, der einzigen Zeitschrift, die bei meinen Eltern erlaubt war, alles anders galt als trivial. Ich las kaum das Politische, meine Eltern schwärmten für Helmut Schmidt, ich las eher hinten über Kultur und Gesellschaft so gut es ging. Der Artikel über den Tod von Elvis Presley traf mich unerwartet hart. Ich traue mich kaum, meine Trauer zuzugeben. Seine Musik war nicht die meiner Mitschüler, aber ich hatte eine alte Platte tausendmal gehört, und seine traurige Existenz rührte mich. Seine komischen Kostüme wie ein glitzernder Clown! Da war sein Drang, der Sex in seiner Bewegung beim Singen und gleichzeitig so viel Sehnsucht in den amerikanischen Liebesfilmen mit ihm. Wie kann ich beschreiben, warum mir Love me Tender so in den Knochen saß. Love me true. Was sollte das nur heißen? Ich glaube, ich fragte mich damals schon unbewusst, ob meine Mutter mich liebte, trotz ihrer Krankheit und wen ich wohl sonst lieben könnte. Maybe I did not love you…but you are always on my mind….

Ich blute. Werde überspült von romantischen Gefühlen und Sehnsucht. Ungeduld des Herzens lese ich von Stefan Zweig. Meine Mutter hat mir durch mein ganzes Leben Literatur schweigend auf den Tisch gelegt, als wolle sie mich trösten oder vorbereiten. Wie schön, dass du dieses Buch noch vor dir hast.

Vor allem bin ich  wieder viel allein. Ein junges Ehepaar spricht mich am Stand an. Entwicklungshelfer aus Kenia auf Erholungsurlaub in Positano. Afrika. Wer wollte da nicht hin?

Am Steg sitzt Riccardo mit seiner Gitarre. Ich schwöre, er sieht genau aus wie Cat Stevens und spielt auch seine Lieder genauso. I listen to the wind, to the wind of my soul. Oh Baby it´s a wild world and hard to get by. Dann Simon und Garfunkel. Sound of Silence. Leider haben wir tatsächlich sehr wenig miteinander gesprochen. Es ging alles sehr schnell. Obwohl ich stundenlang bei ihm sitze und zuhöre, nur ab und zu Cola besorge, meine ich, es gehe schnell, wie er meint, ich würde zu ihm gehören.

Eva zieht mich auf.

-Na endlich funkt es mal bei dir.

Stimmt nicht wirklich.

An der Holzwand des Bootshauses hängt ein Spiegel, wo ich mir die nassen Haare aus dem Gesicht kämme und mich eincreme. Da entdecke ich ihn, wie er mich ansieht von hinten. Und sein Begehren. Ich freue mich, aber hab auch Angst. Irgendwann schiebt er mir eine Blüte hinters Ohr. Abends klettern Eva und ich aus dem Zimmerfenster des Strandhotels und sitzen unten bei den Jungs. Die Großen trinken Wein aus der Flasche, ich schlürfe noch Granita, Wassereis. Die Sterne funkeln und der erste Kuss schmeckt nach mehr. 

Es gibt kein zurück. Ich weiß, worauf es raus läuft.

Eva war schon in der Grotte mit Antonio und will mich mit Riccardo am Strand entlang in die Ruine in der Nachbarbucht mitnehmen. Es ist eine unglaublich schöne Nacht. Steilküste. Flippflopps. Shorts. Und etwas Jasminduft und Thymian vom Gestrüpp an der Felswand.

Es versagt dein Gedächtnis. Du bist überfordert wie damals. Du bist mitgegangen. Ganz am Schluss hast du vielleicht nein gesagt. Umsonst. Irgendwie bist du früher allein zurück im Hotelzimmer und kannst nicht aufhören zu wimmern. Eva kommt später und besorgt Sambucca von der Hotelbar und flößt ihn dir ein. Gekrümmt vor Schmerz im Bett. Kopf zu mit Bereuen und Angst. Nasenschleim. Der süße Alkohol mit Anis hilft nicht gegen den trockenen Mund. Du haßt dich. Du haßt alle um dich, die gar nicht da sind. Irgendwann schläfst du.

Am Frühstückstisch sitze ich wie gelähmt. Mein Vater schöpft sofort Verdacht.

 -Der junge Musiker ist heute früh nach Rom zurück, er müsse das Auto seinem Vater zurückgeben, mit dem sei nicht zu spaßen. Mein Vater lacht so verächtlich. Es sollte drei Tage dauern, bis er es aus mir rausgepresst hat.

 -Spuck jetzt aus, was mit dir los ist, ich verspreche totale Amnestie, aber ich will jetzt wissen,  warum du nur auf dem Zimmer auf der Toilette sitzt.

Wie du deine Angst letztlich gestanden hast, weißt du nicht mehr. Aber an den inneren Zusammenbruch des Vaters erinnerst du dich. Die Hände am Kopf. Sein Entsetzen. 

Die Reise wurde abgebrochen, sonst nicht viel gesprochen. Der kleine Gewaltakt verschwiegen, wie jedes Opfer, fühlst du dich schuldig, es wurde auch nicht entkräftet…

Wir sind zurück nach München gefahren in getrennten Autos, soll heißen, ich durfte nicht bei meiner Cousine mitfahren wie auf der Hinfahrt. Auf einer Tankstelle verabschieden sich unsere Familien. Mein Onkel, Eva und meine Tante, die Schwester meiner Mutter fahren weiter nach Hamburg.

Genau. Wo ist eigentlich meine Mutter in der ganzen Geschichte? Ich suche öfter ihren Blick. Ihre Tablettensucht und schwere Depression sind inzwischen Familiengeschichte. Meine Zeilen hier erfassen nicht, wie sehr ich sie immer vermisst habe. Sie ist die Liebe meines Lebens, das wissen wir alle. In jenem Sommer habe ich das erste mal gespürt, daß ich sie niemals werde fragen können, wie das ist mit uns Frauen und dem Lieben. Und warum Männer oft so bedrohlich wirken. Auch mein Vater. Irgendwas ist damals in mir gestorben. Das Vertrauen in meine Eltern, meine Herkunft, das demokratische Bildungsbürgertum, das es nie war. Ich habe Frieden gemacht mit meinen Eltern und auch mit dem Leben allein. Dazu haben noch mehr Tote in der Geschichte beigetragen. Aber wenn ich heute meine Mutter besuche, fühlt es sich immer noch so an, als stünde Gewalt zwischen uns.

Eva und ich fallen uns also in die Arme an der Tankstelle. Abschied.

-Du stehst das durch, Süße.

Ich nicke.

Sie schiebt mir mit den Daumen die Augenbrauen zurecht.

-Du bist schön und aus dir wird was. 

Ab ins Auto. Mein Vater schüttelt den Kopf. Ihr zwei braucht mal ne Pause. Er hat uns voneinander ferngehalten, bis ich Abitur hatte und behauptet, so mich gerettet zu haben.

Er macht das Radio an. Martin Schleyer ist tot im Kofferraum eines Autos gefunden geworden. Das Photo ist um die Welt gegangen. Gekrümmt. Getreten. Kopfschuss.

Ich hatte mein erstes Mal. Aber es bedeutet mir nichts. Meine ich.

Deutschland hat sein böses Erwachen im deutschen Herbst. 

Ab da ist alles anders.

Der Nagellack fiel ihr als erstes auf. Türkis, dunkel glitzernd an den rechten Zehennägeln dieses fremden Mannes. Ein Freund ihrer Freundin war da. Er saß mit ihnen am Strand und grub seine Zehen in den Sand. Miranda bestaunte ihn ohne ein Wort zu sagen.

Er war mit seinem Rennrad gekommen. Ganz ungeeignet für die Sandwege zum Strand. Er erzählte nonstopp über die Tour de France Etappe, die er versucht hatte. 

-Ich hab mich gequält, aber es ging irgendwie.

Miranda quälte sich nie. Weder auf dem Rad- sie fuhr freihändig lässig durch den Wald und über den Damm- noch im Wasser quälte sie sich, sie zog ihre Bahnen und tauchte, abtauchen war ihre Lieblingsbeschäftigung. 

Sie wollte gerade aufstehen, um sich ins Wasser zu begeben, da fiel ihr auch der andere Fuß des Besuchers auf, die Nägel am anderen Fuß waren fliederfarbend. Sanft, mädchenhaft sah es aus. Er spielte mit den Zehen im Sand. Warum kommentierte nur niemand die lustigen Nägel. War das ein Clown?

Mirandas Zehen war dunkelbraun lackiert, sonst trug sie nichts, wälzte sich genüßlich im Sand und panierte sich wie ein Schnitzel. 

-Ich find es etwas frisch heute, ohne T-shirt ginge das für mich nicht am Strand, meinte der Besucher.

Er saß aufrecht und sah über das Meer. Mirandas Freundin Doreen suchte nach Gesprächsstoff mit dem Freund von früher. Ob die Eltern immer noch den kleinen Laden hätten und die Apfelbäume im Garten noch stünden.

-Seid mir nicht böse, ich geh mal kurz ins Wasser, ich finde die Temperatur super, sagte Miranda. Ihre Freundin nickte nur.

-Ich glaube, ich komm mit. Der Freund sprang auf.

-War dir nicht eben kalt, wie heißt du nochmal?

-Andra heiße ich. Und ich habe gemerkt, daß dir langweilig war. Ehrlich gesagt ging es mir genauso.

-Und das T-shirt lässt du an?

-Ja, lass man. Ich will mich bewegen und du?

Miranda schaute ihre Freundin fragend an. Die holte sich ihr Buch aus der Tasche.

-Alles klar, viel Spass euch beiden. 

Miranda sprang in wenigen Sätzen ins Wasser. Doreen schien erleichtert. Was Andra und Doreen verband, war Miranda nicht klar. Woher sollte sie das aber auch wissen. Ob sie wollte oder nicht, konnte sie Doreen nicht wirklich nah sein.

-Lass uns mal zu dem Boot schwimmen, ich hätte so gern so eine Yacht, sagte Andra im Wasser.

Miranda hatte das Boot an der Boje schon gesehen. Es schien unbesetzt und bewegte sich ziemlich heftig auf und ab. Als würde es Zeichen machen. Der Wellengang war doch gar nicht so stark gewesen, dachte sie noch. Instinktiv schwamm sie zur Ankerkette am Bug, um sich festzuhalten. Sie berührte die Kette und wurde augenblicklich nach unten gezogen. Die Kette ratterte. Einfach loslassen wäre die Devise. Andra war hinter ihr und griff auch an die Kette. Yeah, rief er und ließ sich fallen in die Fluten.

-Lass los wollte sie noch rufen, aber er war so voller Elan, irgendwie war alles egal.

 Miranda konnte nicht loslassen. Andra riß den freien Arm hoch und rief ihr zu, ob er sie halten solle, alles sprudelte, atmen ging irgendwie wie von selbst, Miranda schüttelte den Kopf und genoß den Fall.

Nach wenigen Minuten fühlte sie wunderbar weichen Sand unter den Füßen und drückte sich kräftig ab, jetzt konnte sie loslassen und schoß wie ein Korken nach oben an die Wasseroberfläche. 

Das Wasser war klar und glitzernd. Vor ihr schien die Nachmittagssonne auf eine Insel, scheinbar unbewohnt lag sie ruhig vor ihnen.

Andra gurgelte hinter ihr und robbte sich plantschend an Land.

-Was soll das nur. Eine Robinsonnummer oder was, dachte Miranda.

Sie schob sich langsam vorwärts. Den Kopf halb unter Wasser wie ein Krokodil schaute sie aufmerksam nach links und rechts. Gott sei Dank menschenleer. Nur dieser kleine Clown neben ihr. So klein war er gar nicht. Er reichte ihr die Hand, um sie ganz an Land zu ziehen, aber sie stütze sich allein auf. Sie saßen nebeneinander. Er zog das nasse T-Shirt über den Kopf und wrang es aus. Aus den Augenwinkeln beobachte sie ihn. Er wandte sich ihr zu.

- Hast du Hunger?

Als gäbe es nichts Wichtigeres. Miranda sah auf seine Brust. Er hatte eine lange Narbe von rechts nach links quer über seinen Leib.

-Nein danke. Ich habe keinen Hunger. Bitte sag mir nur, was hier los ist. 

Vor ihnen lag das offene Meer.

Andra schwieg.

-Miranda. Schau mal die Weite, sagte er schließlich. 

Miranda spürte die Ruhe. Es würde keinen Sinn machen, weiter nachzufragen. Komischerweise hatte sie keine Angst. Sie rutschte wieder etwas tiefer ins Wasser, kleine Wellen deckten sie zu. Langsam brach Dunkelheit herein. Der Wald hinter ihnen bekam dieses dunkelgrün, fast schwarz, was Miranda immer faszinierte. Es wurde kühl im Wasser und ehrlich gesagt, meldete sich jetzt auch etwas Hunger in Miranda Magen. Am Ende des Strandes tauchte plötzlich ein Licht auf. 

-Ah Lavinia. Ich habe schon an sie gedacht, sagte Andra.

Das Licht war ein loderndes Feuer, das sich bewegte. Eine Frau, wie im Flammenkleid. Rotes Haar und glühende Füße. Als sie näher kam, hörte man Knistern bei jedem Schritt. Ihre Fußnägel waren auch lackiert,  links orangerot, rechts in dunkellila. Sie kam langsam auf sie zu.

-Guten Abend ihr beiden. Braucht ihr mich? Oder besser: Darf ich mich etwas zu euch setzen? Ihr seht ein wenig blau aus, nachtblau.

Kicherte sie? Es wurde augenblicklich wohlig warm in ihrer Nähe. 

Das Feuer schien sie nicht zu verzehren, aber sie brannte eindeutig. Wofür brenne ich. Der Gedanke huschte kurz durch Miranda Kopf. 

-Darf ich dir ein paar Kartoffeln in die Hand drücken. Andra fragte, als sei es das Normalste der Welt. Er hatte sie aus seiner Hose geholt. Da war kein Geschlecht, sondern Kartoffeln.

-Aber ja, sagte Lavinia, dafür gebe ich mich gerne.

Sie rollte die Erdfrüchte zwischen ihren glühenden Händen, die wie Lava aussahen. Der Geruch von Lagerfeuer verbreitete sich. Miranda rückte unwillkürlich etwas näher.

-Pass auf, du. Nicht daß ich dich anstecke, flüsterte die Feuerdame.

-Andererseits könnten auch ein paar Funken überspringen. Möchtest du das?

Miranda zögerte.

-Ich glaube, ich würde mich sofort verbrennen, aber ich friere etwas.

-Wir haben hier ein gutes Gespür für Nähe und Distanz. Das wirst du bald auch spüren, wenn du willst. Wie heißt du?

-Miranda.

-Oh. Toller Name. Heute schon was Neues gesehen? Sie kicherte wieder.

-Bist du eine, die sich wundern kann, fragte sie weiter.

-Mich wundert hier bald gar nichts mehr, dachte Miranda, aber sagte nichts.

Lavinia brach die Kartoffeln in der Mitte und reichte sie dampfend gar Miranda und Andra. Dann zwirbelte sie an ihren kupferroten Locken und rieselte etwas Salz über Andras Kartoffel.

-Meersalz. Möchtest du auch?

Miranda nickte. Es wurde ein köstliches Mahl. Die wohlige Wärme in der Hand, im Mund und bald auch im Magen erfüllte sie.

-Ich muß los, sagte Andra, der Boss ruft mich. Er schob das letzte Stück Kartoffel in den Mund und war mit zwei Schritten abgetaucht -wie verschwunden.

Miranda setzte sich auf. 

-Welcher Boss?

-Unser Meereskönig. Früher nannte man ihn Poseidon, aber das kann er nicht leiden. Er hat auch keinen Dreizack oder so. Er achtet einfach nur auf unseren Ozean und auf uns. Wieviel gefischt wird oder nicht. Wir respektieren das. Und manchmal verteilt er auch kleine Aufträge, Menschen zu fischen, so wie dich heute.

Sie kicherte schon wieder.

-Genug erzählt. Ich werde mal schnell Andras T-Shirt trocknen, dann kannst du es dir überziehen, dich in den Sand kuscheln und ein wenig zur Ruhe kommen, wenn du magst.

Sie hob das T-Shirt hoch pustete hinein wie ein gewaltiger Fön, es flatterte in ihren Händen und nach wenigen Minuten fiel es warm und flauschig in Miranda Schoß. 

-Ich will nicht schlafen. Ich will zurück zu Doreen. Aber das T-shirt würde ich gern behalten.

-Klar, nimm es, du brauchst es sowieso für den Rückweg.

Miranda zog es über. Es war groß und fiel ihr über die Hüften.

-Wie meinst du das?

-Du wirst sehen, im Wasser brauchst du es. Mach`s gut. Ich bleib hier und leuchte dir noch ein bisschen zur Orientierung.

Plötzlich erinnerte sich Miranda an ihren Lieblingsleuchturm auf Hiddensee, der Dornbusch heißt. Der Dornbusch, der nicht verzehrt wurde, davon hatte sie in einem dicken Buch gelesen.

-Mach`s gut, Lavinia. Danke für alles.

Miranda stürzte sich in die Wellen. Sie hatte ungeheure Kraft und Freude bei jedem Zug, den sie kraulte. Und tatsächlich wurde das T-Shirt auf ihrem Leib auf einmal sehr schwer und zog sie in die Tiefe. Wieder blubberte das Wasser um sie. Sie ließ sich sinken ohne Furcht. Als sie den Boden unter den Füßen spürte, stieß sie sich ab und tauchte wieder an ihrem wohlbekannten Strand auf. Doreen lag in der Mittagssonne mit Strohhut und Buch auf ihrem Handtuch.

-Hey, da bist du ja wieder.

Miranda kam aus dem Wasser. Es brannte in ihr. Und was sie noch nicht bemerkt hatte, ihre Fußnägel waren links nicht mehr dunkelbraun, sondern schimmerten Perlmuttweiß mit einem leichten Blaustich. Sie sah Doreen an, ging auf sie zu und setzte sich einfach rittlings auf ihren Bauch.

-Hey. Gut, daß ich eine Abkühlung gebrauchen kann. Doreen grinste.

 Miranda nahm ihr das Buch aus der Hand und beugte sich über sie. 

-Lass mal den Oskar Wilde. Sie nahm Doreens Hände über ihren Kopf und stützte sich auf sie in den Sand. Doreen lächelte. Ihre grünen Augen strahlten. Miranda traute sich. Sie beugte sich tiefer und küsste Doreen sanft auf den Mund. Dann rollte sie sich zur Seite.

-Sorry. Hast du Andra gesehen?

Doreen lag ganz ruhig neben ihr mit geschlossenen Augen. Sie nahm vorsichtig Mirandas Hand. Sie lagen still. Mirandas Oberkörper hob sich bei jedem Atemzug.

-Der verrückte Vogel ist nur in Badehose aufs Rad gesprungen und sofort losgedüst mit einem Gruß an dich, er hatte es ganz dringend, sagte Doreen.

-Weißt du woher er die große Narbe auf der Brust hat? fragte Miranda.

Doreen schwieg einen Moment.

-Sieh mal was auf seinem T-shirt steht, das du anhast.

Miranda setzte sich auf und sah an sich herunter. In weißen Buchstaben konnte sie deutlich lesen und sie hätte schwören können, daß es da vorher noch nicht draufstand:

Fuck your gender.

September 2022

Miranda
oder die Insel oder Nagellack

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RotGrünBlau
Als ich dich lesen hörte
fuhr ich vorbei an einer Wiese so rot
und ich wußte nicht wovon
danach folgte
ein großer Knall und einige Wellen
jetzt schicke ich dir eine Wiese voller Blaustern

azurblau mit grün am Hang
könnte ein Meer sein

August 2022

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Finisterra

Nimm nichts mit und lass nichts liegen

Ohne es für andere zu geben im Tausch

Steh auf und geh- setze dich der Welt entgegen

Steht auf dem Betonsockel der Wetterstation

 

das Wetter ändert sich auf der Wanderung mit Wanderlust 

 an ein Ende geraten

  ein bisschen verlaufen

   beim Schreiben gibt es immer eine zweite Chance

 

bin ich zu gierig wenn ich alles vom Leben will das man erlangen kann-

befreundet und alleine sein?

was ich mir wünsche ist schwer zu erreichen

habe ich es einmal in der Hand bin ich so ungehalten

als hätte ich nichts erreicht

schreibt Raoul Schrott in Finisterra

 

getröstet und ermutig im Schreiben

will ich deine Zeit nicht in Anspruch nehmen

trage deine Jacke

brauche also nicht deine Umarmung

zumindest nicht hier und jetzt 

 

Lass uns ein gutes Finisterra finden

das Bild, das du entstehen sahst, heißt so

Ich bin keine Freundin

keine Blume vom letzten Herbst

 

Singe keinen Abschiedssong 

Wie Hannes Wader 

Obwohl mir längst klar ist, daß nichts bleibt

daß nichts bleibt, wie es war

 

Lieber nochmal Raoul Schrott:

lerne sprachen um deine im stillen zu finden

es sind die Gesten, die uns bewahrheiten

 

Ich bewahre deine Gesten, die mir zeigten, wie du mich magst, 

auch wenn du dich nur in meine Gegend verlaufen hattest,

deine Briefe an mich und deine vielen Zeilen 

die mir halfen, meine Sprache zu finden 

Jetzt stehe ich auf und setze mich der Welt entgegen

Juli 2022

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Angeschnitten

April 2022

Der angeschnittene Zweig im Glas treibt aus

wie ich angeschnitten

wie unser Traum vom Verlieben

Von deiner Welt des Schreibens in meine Welt

wenn immer wir uns lesen

der Frühling steckt im Gehölz

Welch Klischee für lieben jenseits der fünfzig

den Brief wie ein Kleinod in der Brusttasche tragend

du hast mich meine Liebe genannt

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Leuchtstreifen

Ein breiter Silberschweif

Gespiegelt im See

Mein Blick prüft den Himmel

 

Ja, er leuchtet breit über das halbe Firmament

Ein Flugzeug zog vor Stunden einen schmalen Strich

Jetzt hat sich das Glück ausgebreitet 

 

Wie mein Gefühl nach unserem Wiedersehen

März  2022

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